Drei Filme aus dem Programm von Venedig, drei unterschiedliche Zugänge zur Filmkunst.
Von Karoline Pilcz/Venedig
„JOUER AVEC LE FEU – THE QUIET SON“ (Im Wettbewerb)
DAS SPIEL MIT DEM FEUER

Ein persönliches Schicksal in einem beklemmend düsteren Nordostfankreich, in dem Gewalt und rechtes Gedankengut immer mehr Raum einnehmen.
Es ist eine enge und triste Welt, in die man als Zuschauer vom ersten Augenblick an hineinfällt, die fesselt und fasziniert, mit dunklen, lang gehaltenen Bildern. Ein durch und durch brillanter und überzeugender Vincent Lindon schlüpft in die Rolle von Pierre Hohenberg, dem überfürsorglichen Vater zweier Söhne an der Grenze von Adoleszenz und Erwachsensein, die er nach dem frühen Tod der Mutter in einem bescheidenen Haus in der lothringischen Provinz nahe Metz allein großgezogen hat. Das Leben ist einfach, Pierre arbeitet bei der Bahn, die beiden Jungs Fus und Louis spielen Fußball und helfen beim Fisolenschneiden. Fus, der Ältere, verbringt seine Zeit lieber im Training als in der Schule, und während sich der kaum jüngere Louis strebsam, fleißig und bedacht auf die Aufnahmsprüfung an der Sorbonne vorbereitet, bemerkt Pierre, dass sich Fus mit gewaltaffinen Gleichaltrigen einer Szene angefreundet hat, die sich aus Hooligans, Skinheads und sogenannten politisch Rechten zusammen setzt. Zwischen Vater und dem älteren Sohn kommt es nicht nur immer häufiger zu aufreibenden Eclats, sondern zum Äußersten und schließlich zum großen Schweigen.
Das Regisseurinnen-Duo Delphine und Muriel Coulin erzählt, nach literarischer Vorlage, langsam und sehr genau, dann wieder rasant und mit innerer Spannung eine einfache Geschichte über die Faszination der Gewalttätigen, des Kampfes, des Sich-Formierens von Gleichgesinnten unter dem Aufhänger einer gemeinsamen Idee: Frankreich den Franzosen! Gehalten in dunklen und lichtarmen Bildern schimmert unter der Brutalität immer wieder die Liebe des Vaters zu seinen Kindern durch, die Verbindung der beiden Söhne zueinander, das kleine Glück bei einer fröhlichen Geburtstagsfeier, die Sorge, als Fus brutal zusammengeschlagen wird.
Ein zutiefst verstörender, zugleich leiser wie lauter Film über so genannte kleine Leute und die Faszination des Bösen, der man sich, einmal in seine Falle geraten, nicht entziehen kann. Ein Film, den man nicht so schnell vergisst.
„DIVA FUTURA“ (Im Wettbewerb)
ETWAS UNMORALISCH, ABER NICHT UNSITTLICH

Die wahre Geschichte des italienischen Porno-Filmemachers Riccardo Schicchi opulent und kunstvoll in Szene gesetzt.
Der kleine, zart gewachsene und sensible Riccardo fühlt sich mit Mädchen wohler als mit gleichaltrigen Jungs, älter werdend entdeckt er die Frauen, beginnt sie zu lieben und vor allem zu bewundern, wie ein Kind, das sich an etwas Schönem erfreut. Als Erwachsener revolutioniert er in den schillernden 1980er und 1990er-Jahren nach der Hippie-Bewegung der vorangegangen Jahre die freie Liebe und eröffnet einen neuen Markt: Den der Porno-Filme. Riccardo vergöttert seine Darstellerinnen auf naive, distanzierte Weise, er bezahlt sie gut, rührt sie selbst nicht an, seine Filme sind nicht „billig“, sondern Kunst. Er ist ihm ein Anliegen das Schöne des weiblichen Körpers zu zeigen, es gelingt ihm, seine Schauspielerinnen zu Stars zu machen, bleibt dabei aber selbst bescheiden und freut sich an seinen Kindern mit der ungarischen Sängerin und Schauspielerin Eva. Pietro Castellitto ist ein spielfreudiger, sympathischer und wandlungsfähiger Riccardo, Barbara Ronchi seine treue, langjährige Sekretärin, die davon träumt, Journalistin zu werden. Ihr Buch über die gemeinsame Zeit mit Riccardo, das 2013 ein Jahr nach seinem Tod erschien, ist die Grunde des Filmes.
Giulia Louise Steigerwalt erzählt in ihrem zweiten Film mit Leichtigkeit, einer großen Portion Humor, Grandezza und schönen Bildern ein Leben, das sich einem, vor allem im prüden Italien, anrüchigen Thema verschrieben hat und sich am Rande der Legalität bewegt. Opulente und bewegende, filmisch grandios umgesetzte Biographie eines Lebens- und Überlebenskünstlers, einer tragischen Figur und eines Helden.
„FINALEMENT“ (Außer Konkurrenz)
UND AM ENDE … VERLIEBEN SICH
TROMPETE UND KLAVIER

Claude Lelouchs jüngster Film ist ein musikalisches Märchen voller Poesie, eine Erzählung von Abschiednehmen und Neubeginn sowie eine Geschichte über Frankreich und die Franzosen.
Claude Lelouch, der Schöpfer von „Ein Mann und eine Frau“ nimmt Abschied vom Kino, und tut das mit einem Film, in dem Musik und die Franzosen eine Hauptrolle spielen. Neben dem sympathischen und souveränen Kad Meran agieren Michel Boujenah, Sandrine Bonnaire, Elsa Zylberstein, Francoise Gillard sowie die junge französische Sängerin Barbara Pravi. Der Trompeter Ibrahim Maalouf, der wie kaum ein anderer Musiker Klassik, Barock, Jazz und arabische Musik zu vereinen weiß, liefert die Filmmusik zu dieser musikalischen Komödie über einen, der auszog, weil ihm sein Leben zu eng wird, die Schuhe nicht mehr passen. Lino ist erfolgreicher Anwalt in Paris, hat Frau und zwei erwachsene Kinder, möchte aber die bourgeoise Welt hinter sich lassen und macht sich auf eine Reise durch Frankreich – von der Normandie nach Burgund und weiter in den Süden, überall trifft er auf urige Menschen, kauft sich eine Trompete, tourt spielend durch die französische Provinz und kehrt als anderer zurück.
Es ist ein sehr französischer Film, irgendwo zwischen Realität und Fiktion, zwischen Traum und Wirklichkeit, eine zarte Komödie voller spritziger Dialoge, voller Leichtigkeit des Seins, voller großartiger Landschaften und Stimmungen, voller Poesie und Musik.
Lelouch schöpft noch einmal aus dem Vollen, er hat sichtlich Spaß am Drehen und zitiert sich in Musik und filmischen Rückblenden immer wieder selbst. Maaloufs Filmmusik, die zum Teil von den Schauspielern dargeboten werden, besitzt übrigens Ohrwurm-Charakter. Ein Film, mit dem man sich für etwas mehr als zwei Stunden aus unserer schnelllebigen, viel zu verrückten Welt ausklinken und mit Musik von dem träumen kann, was im Leben wirklich zählt.
