Cannes: Panahi greift nach der Palme

Schon alleine der Umstand, dass Jafar Panahi in Cannes seinen Film „Un simple accident“ persönlich vorstellen konnte, ist eine Sensation. Der Film hat zudem gute Chancen auf die Goldene Palme.

Von Matthias Greuling, Cannes

Ein dunkler Hund auf einer nächtlichen Straße. Ein Aufprall. Ein kurzer, schmerzhafter Stillstand. Und dann geht es weiter – scheinbar. Un simple accident, der neue Film des iranischen Regisseurs Jafar Panahi, beginnt mit einer Szene, wie sie klassischer für das Genre des Suspense kaum sein könnte. Doch was folgt, ist alles andere als ein Genrefilm. Vielmehr entwickelt sich die Geschichte zu einem seltsam irrlichternden, kafkaesk verformten Gesellschaftsporträt, das sich vom Zufall des Unglücks ausgehend durch ein ganzes System von Schuld, Erinnerung und innerer Zerrüttung bohrt.

„Un simple accident“ Foto: Panahi Films

Ein Mann (Ebrahim Azizi), seine hochschwangere Frau und ihre kleine Tochter – unterwegs auf einer Landstraße in der Nacht – erfassen einen Hund. Der Wagen fährt zunächst weiter, bricht aber wenig später liegen. Sie stranden an einer heruntergekommenen Autowerkstatt, die einem Mann namens Vahid gehört – Spitzname „Jughead“, weil er ständig eine Hand an seine schmerzenden Nieren hält, als trage er einen Krug mit sich.

Der Fahrer hat eine sichtbare Behinderung – ein Hinken – und als Vahid ihn erkennt, gefriert ihm das Gesicht. Zwischen den beiden besteht eine verdrängte Vergangenheit, und was folgt, ist keine konventionelle Aufarbeitung. Vielmehr beginnt ein Karussell aus Begegnungen mit Menschen, die alle eines gemeinsam haben: Sie wurden vom iranischen Staat geformt, gebrochen oder traumatisiert.

Ein ehemaliger Buchhändler, eine Hochzeitsfotografin namens Shiva (Mariam Afshari), das junge Brautpaar Goli (Hadis Pakbaten) und Ali (Majid Panahi), ein jähzorniger Einzelgänger namens Hamid – sie alle treten in einem Reigen auf, der grotesk, surreal und von fast biblischer Tiefe ist. Orte wechseln: von der Werkstatt in einen Van, durch nächtliche Gassen bis in eine leere Wüste mit einem verdorrten Baum, der aussieht, als hätte Samuel Beckett ihn für Warten auf Godot entworfen. Es sind traumwandlerische Szenen, in denen man sich nie sicher sein kann, ob das, was man sieht, real ist – oder nur eine Fiebervision aus einem Land, das sich selbst verleugnet.

„Wenn sie uns einsperren, schenken sie uns Ideen“

Dass Jafar Panahi dieses Werk persönlich in Cannes vorstellen konnte, ist allein schon eine kleine Sensation. Der 64-Jährige durfte 15 Jahre lang sein Heimatland nicht verlassen. Er wurde mehrfach inhaftiert, zu Hausarrest verurteilt, mit Berufsverbot belegt. Filme wie Taxi Teheran oder Drei Gesichter entstanden im Untergrund. Un simple accident ist der erste Film seit über einer Dekade, den Panahi selbst zu einem internationalen Festival begleiten darf.

Szene aus „Un simple accident“.

„Wenn die Islamische Republik einen Künstler einsperrt, schenkt sie ihm Stoff. Ideen!“, sagte Panahi auf der Pressekonferenz – lakonisch, aber mit einem Funkeln in den Augen. „Heute erlaubt uns die Technologie zu arbeiten. Kein Machtapparat kann uns daran hindern.“ Das ist nicht nur eine politische Kampfansage – es ist ein Manifest. Für das Kino. Und für die Freiheit der Vorstellungskraft.

Erinnerung als Zumutung

Der Film, der sich aus einer alltäglichen Situation in eine Reise in kollektive Traumata verwandelt, verwebt Thriller-, Drama- und Komödienelemente. Doch es ist die Unberechenbarkeit, mit der Panahi die Tonlagen wechselt, die das Werk so besonders macht. Mal bitterböse, dann absurd komisch, im nächsten Moment existenziell tieftraurig – Un simple accident ist wie eine Fahrt in Vahids rostigem Van: ruckelnd, laut, oft ohne erkennbares Ziel, aber immer mit einem Gefühl der Dringlichkeit.

„Sollen wir uns an unseren Folterern rächen?“ fragt Panahi – als würde er die Frage in den Raum werfen, ohne selbst an eine Antwort zu glauben. Gewalt scheint plötzlich möglich. Als Zuschauer fragt man sich: Können Menschen wie diese wirklich zur Waffe greifen? Oder ist diese Vorstellung nur so fremd, weil wir nicht ermessen können, durch welche Gewalt sie bereits gegangen sind?

Goldene Palme? Möglich. Und verdient.

Nach der Pressevorführung war das Urteil klar: Minutenlanger Applaus, stille Tränen, tiefes Schweigen – und erste Stimmen, die Panahis Film als Favoriten für die Goldene Palme ins Spiel bringen. Es wäre ein politisches Zeichen. Aber auch ein künstlerisch absolut gerechtfertigtes.

Denn Un simple accident ist kein Pamphlet, kein Fingerzeig. Es ist ein Film von seltener Tiefe – einer, der nicht belehrt, sondern infrage stellt. Der keine Antworten gibt, sondern Räume öffnet. Und der daran erinnert, dass Kunst manchmal auch eine Überlebensstrategie ist.

„Ich bin hier – aber viele können es nicht sein“

Zum Abschluss der Pressekonferenz sprach Panahi von den Kollegen, die im Iran weiterhin nicht reisen, nicht drehen, nicht einmal hoffen dürfen. „Ich bin frei – aber nicht vollständig“, sagte er. „Solange sie zum Schweigen gezwungen werden, ist meine Freiheit unvollständig.“ Ein Satz, gesprochen ohne Pathos, aber mit einer Klarheit, die das Festival an diesem Morgen in fast greifbare Stille tauchte. Un simple accident ist kein Film über einen Hund, der stirbt. Er ist ein Film über ein System, das Menschen wie Tiere behandelt. Und über jene, die trotzdem weitermachen – mit Kamera, mit Schmerz, mit Würde.

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