„The Change“: Amerika steht auf der Kippe


Regisseur Jan Komasa über seinen neuen Film The Change (Originaltitel: Anniversary), gesellschaftliche Brüche und die Zerreißproben der Familie.

Von Matthias Greuling

Der polnische Regisseur Jan Komasa, bekannt durch Corpus Christi, erzählt in seinem neuen Film The Change (ab 6.11. im Kino) – der in Österreich unter diesem Titel, international als Anniversary, in die Kinos kommt – von einer amerikanischen Familie, die über mehrere Jahre hinweg an gesellschaftlichen Umwälzungen zerbricht. Dr. Ellen Taylor (Diane Lane), eine idealistische Professorin, und ihr Ehemann Paul (Kyle Chandler), Restaurantbesitzer, feiern ihren 25. Hochzeitstag mit ihren vier erwachsenen Kindern. Sohn Josh bringt seine Freundin Liz mit – eine ehemalige Studentin Ellens, die sich einst von ihr zurückgewiesen fühlte. Liz ist inzwischen die charismatische Gründerin einer Bewegung namens The Change, die Einheit, Sicherheit und nationale Erneuerung verspricht.

Was als familiäres Wiedersehen beginnt, verwandelt sich über die folgenden Jahre in ein düsteres Porträt gesellschaftlicher Spaltung: Liz’ Bewegung gewinnt Macht, während sich die Demokratie allmählich in ein autoritäres Regime verwandelt. Innerhalb der Taylors brechen Loyalitäten auf – Josh radikalisiert sich, Tochter Cynthia kämpft als Anwältin mit moralischen Kompromissen, und Ellen versucht verzweifelt, ihre Familie wie ihre Werte zu bewahren.

Ein Gespräch über Struktur, Erinnerung, politische Extreme und die Angst, geliebte Menschen an Ideologien zu verlieren.

Sie bringt Unruhe: Liz (Phoebe Dynevor) hat eine straffe Ideologie. Foto: Tobis

celluloid: The Change ist wirklich ein beeindruckender Film – vor allem die Form hat mich fasziniert. Der Film besteht im Grunde nur aus den jährlich wiederkehrenden Jahrestreffen der Familie – woher kam die Idee, eine Geschichte so zu strukturieren?

Jan Komasa: Ich sehe jeden Film als Gelegenheit, eine neue Erzählstruktur zu erforschen. Ich denke dabei oft wie ein Ingenieur, der versucht, den Kern des Motors, den Algorithmus, zu finden. Wenn man diesen Kern hat, ergibt sich der Rest fast von selbst.
Bei Anniversary – oder The Change, wie er in Österreich heißt – wollte ich eine Geschichte erzählen, die sich nicht an die klassische, aristotelische Drei-Akt-Struktur hält. Stattdessen wollte ich etwas schaffen, das durch seine innere Dynamik fesselt. Ich verspreche dem Zuschauer von Anfang an: „Es wird sich verändern.“ Genau das steckt ja auch im Titel – The Change. Der Film zeigt über sechs Jahre hinweg, wie sich Menschen und Gesellschaften wandeln.

Woher kam das Konzept dieser Kapitelstruktur – also fünf Jubiläen über sechs Jahre hinweg?

Die Inspiration kam, als ich alte Familienfotos ansah. Immer derselbe Ort, derselbe Weihnachtsbaum – aber die Gesichter veränderten sich. Manche Menschen waren trauriger, andere fehlten plötzlich. Einige kamen mit neuen Partnern, manche Partner waren verschwunden, weil sich Beziehungen aufgelöst hatten. Eine Cousine war schwanger, später hatte sie Kinder. Jemand wurde krank, jemand starb.
Ich wischte also durch diese Fotos und dachte: Das ist ja schon eine Geschichte. Warum nicht einen Film machen, der genau so funktioniert? Nur die Jahrestage zeigen – und der Zuschauer muss sich selbst das Dazwischen vorstellen. Er muss die Lücken mit seiner Fantasie füllen. Ich gebe nur Impulse, provoziere Gedanken – aber die eigentliche Geschichte entsteht im Kopf des Zuschauers.

Regisseur Jan Komasa im Zoom-Gespräch mit Matthias Greuling. Foto: Greuling

Ein interessanter Ansatz, der an Richard Linklaters Boyhood erinnert – aber Ihr Film hat ja noch eine gesellschaftliche Ebene.

Genau. Wir wollten, dass die Gesellschaft selbst zu einer Art Figur wird. Während Boyhood das Private zeigt, wollte ich zusätzlich den gesellschaftlichen Wandel einbeziehen. So entstand die Idee eines neuen politischen und sozialen Bewegungsphänomens, das wir „The Change“ nennen – eine Bewegung, die die Gesellschaft grundlegend verändert, sie fremd, herausfordernd, vielleicht sogar bedrohlich macht. Uns war wichtig, dass diese Bewegung weder eindeutig rechts noch links ist. Sie sollte eine dystopische Qualität haben, wie in Orwells 1984. Das Buch ist großartig, weil es von beiden Seiten – konservativ wie progressiv – als Warnung gelesen werden kann. Genau das wollten wir auch: eine Bewegung, die in jedes Narrativ passt. Wir kombinierten konservative Elemente – etwa die Verehrung der Flagge – mit sozialistischen Ideen, in denen das Kollektiv im Mittelpunkt steht. Dazu kommt ein technokratisches Element, in dem Experten und Denkfabriken die Kontrolle übernehmen. Es ist also ein Frankenstein-System aus verschiedenen Ideologien.

Und diese gesellschaftliche Kälte kontrastieren Sie mit den sehr intimen, fast porträthaften Aufnahmen der Familie.

Ja, ich habe sehr bewusst viele Nahaufnahmen gedreht – ich wollte, dass der Film wie ein Fotoalbum wirkt. Gleichzeitig hat die Struktur auch etwas Theatralisches, was kein Zufall ist. Mein Vater war Theaterschauspieler. Ich bin mit dieser Form aufgewachsen: Erster Akt, Pause, zweiter Akt – dieselben Figuren, derselbe Raum, aber die Zeit ist vergangen, und die Zuschauer müssen sich vorstellen, was dazwischen geschehen ist. Im Theater funktioniert das wunderbar, weil das Publikum mit seiner Vorstellungskraft arbeitet. Im Kino traut man sich das seltener, weil man Angst hat, den Zuschauer zu verwirren. Ich wollte dieses theatralische Gefühl ins Kino bringen: dieselben Figuren, derselbe Ort – aber jedes Mal eine andere Zeit, ein anderes Leben.

Diane Lane brilliert in „The Change“. Foto: Tobis

Sie erzählen eine amerikanische Geschichte. Sie leben aber in Warschau. Hat der Blick von außen Ihnen geholfen, die USA zu zeigen?

Ja, das war sogar mein Ziel. Ich wollte diesen Zusammenprall der Perspektiven. Die Sensibilität eines mitteleuropäischen Regisseurs trifft auf eine wohlhabende Ostküstenfamilie aus Washington D.C. – das war für mich der spannendste Konflikt.
Ich wollte sehen, wie diese amerikanische Familie mit einem gesellschaftlichen Wandel umgeht, den wir Europäer schon oft erlebt haben. Wir haben in Polen, in Deutschland, in Mittel- und Osteuropa so viele Systeme kommen und gehen sehen. Ich dachte: Wenn die Amerikaner sich einmal selbst durch unseren Filter betrachten, vielleicht verstehen sie etwas – oder wir verstehen sie besser.

Der Film wirkt aber auch wie ein Kommentar auf die politische Lage in den USA. Wollten Sie das?

Ich wollte keinen Film über Trump drehen, keinen Propagandafilm für oder gegen irgendeine Seite. Ich verurteile niemanden für seine politische Haltung. In Demokratien muss man die Entscheidung des Volkes respektieren. The Change ist für mich kein Film gegen jemanden – sondern gegen unsere eigene Blindheit. Wir sind so sehr davon überzeugt, im Recht zu sein, dass wir die Menschen, die wir lieben, nicht mehr sehen. Wir vergessen, dass wir sie lieben – und beginnen, sie zu hassen, nur weil sie anders denken. Genau dort liegt für mich die wahre Apokalypse. Wir Polen – wie auch die Deutschen – haben in den letzten hundert Jahren alle möglichen „Ismen“ erlebt: Faschismus, Kommunismus, Kapitalismus, Nationalismus. In unserem Blut steckt ein tiefes Misstrauen gegenüber Ideologien. Amerikaner dagegen leben seit 250 Jahren im gleichen politischen System. Für sie ist das alles neu. Sie experimentieren jetzt mit unterschiedlichen Denkweisen und fragen sich: „Was bedeutet es überhaupt, Amerikaner zu sein?“ Genau diese Frage haben wir Europäer uns schon oft gestellt.

Trailer Deutsch

Das Thema Familie steht im Zentrum des Films. Sie symbolisiert ja auch die Gesellschaft im Kleinen. Wie wichtig ist Familie für Sie persönlich – und in Polen allgemein?

In Zeiten des Wandels bleibt einem nur die Familie. In Polen glauben die Menschen stark an kleine Gemeinschaften: Familie, Nachbarn, die eigene Straße. Wir nennen das „kleine Vaterländer“. Diese kleinen Einheiten sind stabiler als das große Ganze, weil die große Geschichte Polens immer wieder umgeschrieben wurde. Grenzen verschoben sich, Städte wechselten ihre Zugehörigkeit. Das Land war mehrfach geteilt. Die Familie ist die einzige Konstante. Wenn sie zerbricht, ist das das Ende der Welt. Für mich ist der größte Schmerz, einen Menschen an eine Ideologie zu verlieren – einen Freund, ein Familienmitglied. Nichts ist schlimmer. Aus dieser Angst heraus habe ich Anniversary gemacht: der Angst, dass wir uns gegenseitig verlieren, weil wir an etwas glauben, das uns trennt.

Und dann kam die Realität – Pandemie, Kriege, politische Gewalt. Hat Sie das überrascht?

Absolut. Ich hätte nie gedacht, dass unsere Welt so schnell in einen Zustand gerät, der meiner Filmwelt ähnelt. Wir leben wieder in Zeiten, die an den Kalten Krieg erinnern. Wenn man sieht, was in Washington 2021 passiert ist, oder was heute in der Welt geschieht – dann erscheint die dystopische Veränderung im Film fast bescheiden.

Wie haben Sie es geschafft, dieses schleichende Unbehagen im Film zu verdichten – diese immer stärker werdende Beklemmung?

Ich habe viel aus der Erfahrung des Kommunismus geschöpft. Damals musste man niemanden ins Gefängnis werfen, um ihn zu zerstören – man konnte es schleichend tun. Wie den Frosch, der langsam im heißen Wasser gekocht wird.
Im Film passiert genau das: Die Professorin verliert Schritt für Schritt ihre berufliche Freiheit. Der Ehemann kann sein Restaurant nicht mehr führen. Die Tochter darf als Komikerin keine Witze mehr machen, weil Humor plötzlich als Angriff gilt. So funktioniert soziale Manipulation. Niemand muss direkt Gewalt anwenden – das System erledigt es durch uns selbst. Das war in Osteuropa Realität, und ich habe es in die Gegenwart übertragen.

Welchen Anteil an diesem Film hatte der Erfolg Ihres Films Corpus Christi, der 2020 oscarnominiert war?

Ohne Corpus Christi gäbe es Anniversary nicht. Die Oscar-Nominierung öffnete mir alle Türen. Ich habe gelernt: Wenn man einen Film herausbringt, ist das der Moment, sofort den nächsten zu pitchen. Während unserer Oscar-Kampagne 2019/2020 konnte ich Anniversary vorstellen, den Produzenten Nick Wexler gewinnen und weitere Projekte anstoßen. Man muss das Zeitfenster nutzen – es ist kurz. Wenn man zu lange wartet, schließt es sich wieder.

Interview: Matthias Greuling

FILMSTART: 6.11.2025

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